Ritratto, Copia
Stephan Berg (2017)
Venedig, Sehnsuchtsort für jährlich mehr als 30 Millionen Touristen, ist heute mehr denn je eine Inszenierung von Fassaden, Blicken und Oberflächen. Eine grandiose Kulisse für das tägliche Spektakel auf den Flaniermeilen der Stadt, aber immer weniger ein Ort, an dem auch tatsächlich gelebt wird. Wer hier arbeitet, arbeitet überwiegend an der permanenten Aufrechterhaltung eines Bildes, das über kurz oder lang die Stadt zur vollkommenen Geisterstadt machen könnte. Schon jetzt sind die Miet- und Immobilienpreise so hoch, dass kaum ein Venezianer sie sich noch leisten kann, mal ganz abgesehen von den logistischen Herausforderungen, die diese Stadt bereithält, in der jeder Transport mühsam per Boot bewältigt werden muss, und jeder Umzug zu einem komplexen Kraftakt wird. (...)
INGA KERBERS Projekt für Venedig ordnet sich ein in die systematische Bildrecherche, welche die Künstlerin unter dem Oberbegriff des Clichés seit 2009 betreibt. Dabei nutzt die Künstlerin das Bedeutungsspektrum des Begriffs, wonach Cliché wörtlich übersetzt "ein Foto, bzw. ein Negativ machen" bedeutet, im übertragenen Sinn aber mit Reproduktion, Gemeinplatz und Stereotyp gleichgesetzt wird. In diesem Sinne sind alle Arbeiten Inga Kerbers sowohl visuelle Analysen des fotografischen Prozesses und der spezifischen fotografischen Bildlichkeit, wie auch Auseinandersetzungen mit Bilderthemen, die zu Clichés ihrer selbst geworden sind, und damit spüren lassen, dass es keine direkte Verbindung zwischen dem Abbild und der Wirklichkeit gibt, sondern nur zwischen unterschiedlichen Ebenen von Bildsurrogaten.
Grundlage für das Werk ist ein permanent wachsendes Archiv analoger, mit verschiedenen Kameras und Entwicklungstechniken selbst gemachter Fotos, die sich im Wesentlichen auf klassische kunsthistorische Genres und Themen wie Landschaften, Porträts, Blumenstillleben etc. beziehen. Die Aktivierung dieses 1987 (also mit fünf Jahren!) begonnenen Archivs erfolgt durch komplexe technische Übersetzungsprozesse. Zunächst werden dazu Handabzüge ihrer Fotos eingescannt. Diese wiederum werden in vielfacher Vergrößerung des Ausgangsbildes auf unterschiedliche Papiere und Bildträger als Pigmentdruck geprintet. In Gang gesetzt wird damit eine hochproduktive Befragung des Bildes im Hinblick auf seine materiellen, inhaltlichen, technischen, formalen Grundlagen und auf die Veränderungen, die es durchläuft, wenn man die Parameter seines Erscheinens verschiebt oder ändert. Zur Sehschule werden diese Werkreihen, weil die zugrundeliegenden Motive immer mehrfach, mit jeweils leicht verändertem Kamerastandpunkt fotografiert wurden. Das Spiel mit den unterschiedlichen Ebenen von tatsächlicher und scheinbarer Reproduktion macht bei genauerem Hinsehen deutlich, dass jede dieser Reproduktionen wiederum den Status eines eigenen, einzigartigen Bildes für sich reklamiert. Das Original erscheint dabei aber nicht mehr als geniale künstlerische Schöpfung ex nihilo, sondern im Durchgang durch seine verschiedenen Stufen der reproduktiven Aneignung.
Diese Umwertung der Bedeutung des Originals und der Kopie kennzeichnet auch Inga Kerbers Vorgehen für Ihr Venedig-Projekt. Cliché of a City, Venice reflektiert Venedig als eine Kippfigur zwischen Original und Täuschung, in der die Touristen zu den wahren Bewohnern der Stadt geworden sind. Aber erkennbar geht es in der daraus entstandenen Porträtserie, die sich den verschiedenen Akteuren dieser Stadt widmet, nicht um eine Entlarvung eines formatisierten, touristischen Blicks. Kerbers Fotos nehmen vielmehr die
Kulissenhaftigkeit der Stadt zum Ausgangspunkt für einen fotografischen Blick, in dem die Selbstinszenierung der Porträtierten auf hintergründige Art etwas über die Wahrheit der Stadt verrät. Ein Beispiel dafür sind die beiden leicht unterschiedlichen Porträts eines Fitnesstrainers, die Inga Kerber auf der Basis von Mittelformat-Handabzügen gescannt und dann als Banner im Hof des Museums an die Wände gehängt hat. Die Haltung des Mannes erinnert vage an klassische Skulpturen, während die Turnschuhe auf sein aktuelles Selbstbild verweisen. So wird sein Posieren zum Ausdruck einer Identität, die exakt, aber vermutlich unbewusst zwischen Original und Kopie balanciert, und dies in einem Ambiente, das selbst die gleiche Ambivalenz aufweist. Insofern verstärkt die doppelte Maskerade von Stadt und Protagonist interessanter Weise nicht die Künstlichkeit der Szene, sondern stattet sie mit einer Aura der Glaubwürdigkeit aus, indem sie kenntlich macht, wie weitgehend der Kontext und seine Akteure mit ihrem Bild identisch geworden sind.