Jürgen Kleindienst
Aus der Tiefe der Oberfläche
Die Leipziger Künstlerin Inga Kerber arbeitet mit abgelaufenen Filmen, überlagertem Fotopapier und historischen Stoffen. Noch bis 4. Juni zeigt sie ihre Arbeiten in der Galerie She Bam! in der Spinnerei
Zu den Mantren deutscher Gründlichkeit gehört das Mindesthaltbarkeitsdatum. Was abgelaufen ist, muss weg. Die Leipziger Künstlerin Inga Kerber arbeitet damit. Mit Übriggebliebenem, Vergessenem, Aussortiertem. Mit abgelaufenen Filmen, abgelaufenem Fotopapier, alten Handtüchern, Tischdecken, Leinenstoffen. Sie liebt die braune Farbe und die Form alter Vasen aus der DDR, die sie sammelt. „Von meiner Buchbinderin habe ich einen wunderschönen Bucheinbandstoff aus der DDR bekommen“, erzählt sie. Abgelaufenes Material aus einem abgelaufenen Land.
Dieses Interesse an Stoffen, die ihren Charakter erst spät entwickelt, die sich quer stellen, an denen man haftet und nicht abrutscht, hat nur bedingt mit Nostalgie zu tun. Es geht um etwas Grundsätzlicheres. Das Digitale, Glatte, uns flackernd in den Bann ziehende, erzeuge am Ende Leere, meint sie und verweist auf den Philosophen Bjung Chul Han. In „Die Errettung des Schönen“ schreibt er: „Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart. Es verbindet Skulpturen von Jeff Koons, iPhone und Brazilian Waxing miteinander. Warum finden wir heute das Glatte schön? Über die ästhetische Wirkung hinaus spiegelt es einen allgemeinen gesellschaftlichen Imperativ wider. Es verkörpert nämlich die heutige Positivgesellschaft. Das Glatte verletzt nicht. Von ihm geht auch kein Widerstand aus. Es heischt Like. Der glatte Gegenstand tilgt sein Gegen. Jede Negativität wird beseitigt.“ Und dabei geht das Positive, Lebendige gleich mit drauf.
Inga Kerber steigt mit ihrer Arbeitsweise aus diesem dialektischen Nullsummenspiel aus. In ihrem Garten neben der Spinnerei, wo sie ihr Atelier hat, blühen gerade die Lupinen. Was bei ihr wächst,– auch auf dem Parkfriedhof in Plagwitz baut sie Blumen an – oder kann zum Gegenstand ihrer Kunst werden, die noch bis 4. Juni in der Galerie „She Bam!“ zu sehen ist.
Dort zeigt sie unter anderem einen und denselben Blumenstrauß, den sie mit einer Mittelformat- und einer Polaroidkamera fotografiert hat. Aber was heißt hier „fotografiert“? Sie hat ihr Motiv der Unberechenbarkeit der verwendeten Materialien, die man auch als „überlagert“ bezeichnen könnte, ausgesetzt. So sind Kunstwerke entstanden, „in leichtem Sepia-Graubraunschimmer, aber es gibt Nuancen, es ist immer anders. Ich finde das Unikat immer wichtig“, wie die Künstlerin sagt. So malt das Licht einem Grund, der sich aus der Planbarkeit befreit hat. Auflage eins. Der Strauß – unter anderem mit
Helleboren und Sanddorn vom Störmthaler See – scheint ins Halbdunkel, ins Irreale zu entgleiten, so als werde er aus dem Hier und Jetzt gezogen. Kerber überlistet die Fotografie, aus der sie ursprünglich kommt. Der Farbstich wird zum poetischen Ausweg aus dem Normbereich. Alte Filme, erzählt sie, seien inzwischen Mangelware, auch bei Ebay nur noch schwer zu finden. Manchmal bekommt sie sie geschenkt, oder sie lässt ihre eigenen länger liegen. Bei Fotopapier – zuweilen Jahrzehnte alt – sehe es etwas besser aus.
Geboren ist Inga Kerber 1982 in Berlin, aufgewachsen bei Hamburg. 2004 ist sie nach Leipzig gekommen. An der Hochschule für Grafik und Buchkunst studierte sie bis 2011 Fotografie, unter anderem bei Beate Gütschow. Der fotografische Diskurs und damit einhergehende Prozesse sind ihr zu eng. „Ich habe mich von Anfang an zur Malerei, ihrem Diskurs und ihrer Oberfläche hingezogen gefühlt – und zu den Menschen, die damit zu tun hatten. Ich habe viel Zeit in Malerateliers verbracht.“
So sind längst Malerei und Zeichnung hinzugekommen. Auch hier spielen der Bildträger und die Farben eine große Rolle. Kerber malt entweder mit Öl oder Farben, die sie zumeist aus Erdpigmenten und Hasenleim mischt – unter anderem auf historischen Stoffen oder altem holzhaltigen Papier. Eine Arbeitsweise, die sich geradezu perfekt in aktuelle Nachhaltigkeitsdiskurse fügt, ihr aber in die Wiege gelegt wurde: Ihre Mutter studierte Garten- und Landschaftsplanung , ihre Oma kommt vom Bauernhof und ist auch gelernte Gärtnerin. „Blumen und Pflanzen waren immer gegenwärtig. Von klein auf habe ich gelernt, mit den Ressourcen des Gartens umzugehen, nur so viel zu entnehmen, wie er verkraftet.“
Kerber denkt und arbeitet vom Material her, sie verwebt Tiefe und Oberfläche – das macht auch das Einzigartige ihrer Ausstellung bei She Bam! aus. Diese Kunst trumpft nicht auf, sie ruht in sich, ergibt einen harmonisch-wilden Kosmos, in dem Fotografie, Malerei, Zeichnung und Installation zusammenkommen, ineinander übergehen und gleichzeitig eng verbunden sind. Sinnlichkeit verbindet sich mit Materie zu einem guten Ort.
Kerbers Motive haben etwas Archaisches, Grundsätzliches, fast wie Höhlenmalerei. Frauen schmiegen und biegen sich in pflanzlichen Umgebungen. Sie gehe dabei von sich aus, sagt sie. „Ich begebe mich in meiner Vorstellung da gewissermaßen in verschiedene Posen und Positionen, und male mir darum eine Welt mit floralen Ornamenten“ Mit Selbstbildnissen habe man es aber nicht zu tun. Eher wird der Körper zum Ornament. „Ornamentik hat etwas Handwerkliches, Alltägliches, Beständiges, Zurückgenommenes.“ Kerber mag es, wenn sich das Ego nicht zu sehr in den Vordergrund drängt, sondern hinter der Wiederholung zurücktritt.
Eine Haltung, die auch dem Planeten ganz guttun würde.
Inga Kerbers Ausstellung „Gala“ ist bis 4. Juni in der Galerie She Bam! (Spinnereistraße 7) zu sehen, geöffnet Mi–Fr 11–18, Sa 11–16 Uhr