Angelika Richter
Die Erzeugung der Schatten (1)
(2013)
Bilder des Alltags und des Gewöhnlichen, deren Nüchternheit und Unscheinbarkeit geradezu auffallen, dienen Inga Kerber als Vorlage für ihre künstlerischen Arbeiten. Ihre Sujets sind bewusst gewählt und fotografiert. Sie tauchen häufig in der visuellen Welt der (Amateur-)Fotografie auf und wirken damit geradezu klischeehaft. Aus ihrem nunmehr seit über zwanzig Jahren expandierenden Archiv analoger Fotografien im Klein- und Mittelformat, digitaler Drucke und Kopien überführt Inga Kerber ihre Motive in spezifische Kategorien, die in Anlehnung an tradierte kunsthistorische Genres strengen Gruppierungen entsprechen. Dazu gehören Blumensträuße, Männer, Tiere, Landschaft, Pflanzen, Kinder, Frauen und Theater. In einem weiteren Verfahren werden diese Bilder gescannt und anschließend großformatig gedruckt. Ein und dasselbe Motiv erscheint entweder als Triptychon oder in Serie von bis zu fünf Bildern, wobei das Motiv durch leicht verschobene Kameraperspektiven und Anschnitte kaum merklich variiert wird. Indem Inga Kerber jedem ihrer Drucke den Begriff des Clichés im Titel mit gibt, führt sie die Bedeutung des Klischees – als Stereotyp, als Abklatsch beim Druckverfahren, als Kopie und Reproduktion – zusammen. Inga Kerbers künstlerische Thematik, ihr konzeptuelles Vorgehen und die Genese ihrer Werke spiegeln die in der Terminologie des Klischees angelegte und von ihr bewusst aufgegriffene Bedeutungsvielfalt und Doppeldeutigkeit subtil wider.
Aber kommen wir nun erst einmal zum eigentlichen Prozess der Bildwerdung. Es ist der Verlust der Zeit durch das Momenthafte der Fotografie, den Inga Kerber dazu veranlasst, sich den prozesshaften Reproduktionstechniken von Bildern zu widmen. Indem sie ihre Archivbilder dem Scannen und bestimmten Druckverfahren unterzieht, wird ein bedingt unkontrollierbarer Prozess der Bildwerdung garantiert. Es prägen sich Spuren der Realität dauerhaft in das Papier ein: Das sind Fehler wie Kratzer, Fingerabdrücke, der Lichteinfall beim Scannen, Fussel und Raster, die mitunter bereits im ursprünglichen fotografischen Sujet angelegt sind, dieses aber weiter verfremden, mehr noch, die selbst zum Motiv der Bilder avancieren. Um diesen „Aufzeichnungen“ größtmögliche Sichtbarkeit zu verleihen, produziert Inga Kerber ihre Bilder in einem abschließenden Schritt als großformatige Pigmentdrucke. Bei den Vervielfältigungsverfahren tritt ein weiterer Aspekt hinzu, der für die künstlerische Praxis Inga Kerbers wesentlich ist: der Zufall. Das Ausschnitthafte und Fragmentarische, das Fotografie generell von unserer Welt vermittelt, wird hier durch die bewusst unkontrolliert und zufällig auftretenden Zeichen der Störungen auf den Bildern verdichtet. Die Drucke von ein und demselben Motiv sind nie identisch. Im Gegenteil: Der Einsatz verschiedener Drucker oder des gleichen Druckers mit größeren dazwischen liegenden Zeitabständen, die Verwendung verschiedenartiger Papiere und Papiergrößen führen zu feinen Nuancen und „Schattierungen“ der Bilder innerhalb einer Serie. Besonders auffallend sind die deutlich abweichenden Farbgebungen sowie die divergenten Hell- und Dunkelwerte. Folgt man der Argumentation Walter Benjamins, so hat insbesondere die Fotografie innerhalb der modernen Kunst seine Aura verloren, weil sie unendlich reproduzierbar ist. (2) Gerade nicht der Verlust der Echtheit eines Kunstwerks, den Benjamin in Hinblick auf technische Reproduktionsverfahren beklagt, sondern das Entstehen eines einmaligen und originären Bildes garantiert die künstlerische Methode Inga Kerbers. Reproduktionsverfahren werden von ihr als Produktions- und Entwicklungsprozesse verstanden. Die auf dem Gebiet der traditionellen Schönen Künste eigentlich als wertlos erachtete Kopie erfährt durch die medialisierte und zugleich individuelle Bildwerdung ihre Umwandlung ins Original. Durch das Zusammenwirken von Zeit, Intention und Kontingenz verlieren Inga Kerbers Bilder überdies ihren rein fotografischen Charakter und generieren eine malerische Qualität. Wie in der Malerei schreibt sich die Realität in einem langsamen Prozess in ihre Bilder ein. Spuren des Realen, die in den Fotografien selbst angelegt sind, werden durch die Zufälligkeit der Zeichensetzung während des Reproduzierens verdichtet. So betonen Inga Kerbers Bilder die Verwischung der Grenzen von Original und Kopie, von echt und unecht. Ihre Drucke werden zugleich zu Speichermedien, sie haben ein Gedächtnis. Dabei setzt Inga Kerber Reproduktion weniger als Methode kultureller Erinnerungsleistung ein, als dass sie den Fokus auf den Entstehungsprozess von Bildern selbst, auf die Einschreibung von Absichtsvollem und Unbeabsichtigtem innerhalb ihrer Bildwelten offen legt. Ihre Arbeiten postulieren zum einen ein authentisches Neues: Obwohl sie sich aus ursprünglich reproduzierten und gescannten Vorlagen generieren, haben ihre Drucke den Wert eines Kunstwerks mit Aura, sie lassen einmalige Charakteristika erkennen. Zum anderen verweisen sie mit ihren Spuren der Realität auf die Möglichkeiten und das Potenzial des Neuen.
In der griechischen Übersetzung bedeutete Fotografie „Lichtschrift“, mit Licht zeichnen. Inga Kerbers Bilder stehen geradezu für die gegenteilige Intention: für Verdunklung und Verschattung. Dieser Effekt ist erwünscht und durch die Verwendung technischer Reproduktionsverfahren mitunter bis zum Äußersten geführt. (Cliché of a Half Nude Torso) I(2010) zeigt einen stehenden Mann im Profil, der innerhalb der Serie von drei Bildern zunehmend in die Schwärze des Bildes übergeht. In (Cliché of a Palm Tree) I (2009), treten nur noch die äußeren Konturen einer Palmenkrone vor blauem Himmel scherenschnittartig hervor, die Palme an sich ist völlig geschwärzt. In zahlreichen ihrer Serien von Blumen-Bouquets wendet Inga Kerber das Prinzip der Verschleierung, der Unkenntlichmachung und Auflösung des Motivs ein. Ihre Bilder bewegen sich mitunter an der Grenze zur Abstraktion und zum Verschwinden. Sind ihre Motive vor dem Druck bereits teilweise nur undeutlich erkennbar, so ist ihre Präsenz im Kunstwerk selbst nur noch grenzwertig gegeben. Gerade die Stillleben-Serien, in denen das Vanitas-Motiv im Blühen und Verwelken der Blumen bereits angelegt ist, verweisen durch die Überlagerung von später hinzugekommenen Schatten, neuen Tonwerten und Bildfehlern noch einmal mehr auf die Fotografie als visuelles Dokument eines festgehaltenen und aufgezeichneten Augenblicks wie auf ihren Zeugnischarakter für die Veränderbarkeit und Vergänglichkeit von Menschen und Dingen. Zeigen sich dennoch Licht oder Lichtstreifen auf Inga Kerbers Bildern, so sind diese meist das Resultat von Störungen beim Vervielfältigen. Licht dient der Künstlerin nicht für die Be- oder Durchleuchtung ihrer Motive, für die Betonung von Klarheit und Präsenz. Das Licht überstrahlt das Sujet ihrer Fotografie, löscht dieses – wie das Schwarz – an einzelnen Stellen mitunter völlig aus. Die starken Schattierungen wie die überbelichteten, strahlend hellen Stellen des Bildes können als Gleichnis gelesen werden für die Unmöglichkeit einer fotografischen Abbildung und Durchleuchtung der Realität ohne die gleichzeitige Aufzeichnung ihrer nicht kalkulierbaren Momente, ihrer blinden Flecken und Leerstellen. (...)
Anmerkungen
(1) Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Text zum Preisträgerkatalog des Marion Ermer Preis 2013.
Angelika Richter: „Die Herstellung von Sichtbarkeit – Zu den Arbeiten von Franziska Jyrch, Inga Kerber, Oskar Schmidt und Andrzej Steinbach“, argobooks Berlin, 2013.
(2) Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1963.