Agnes Matthias (2013)
Aspekte der Differenz – Zum fotografischen „Cliché“ im Werk von Inga Kerber
Drei Fotografien hängen nebeneinander an einer Wand. Darauf ist in gleicher Anordnung jeweils ein Strauß Dahlien in einer einfachen Glasvase zu sehen, mit leicht nach links gekipptem Bildausschnitt. Wie hinter Milchglas mutet das Arrangement an: In zartgrünes Licht getaucht, sind die Lokalfarben der Blüten kaum auszumachen, die sich in ihren Konturen umso deutlicher vom neutralen Hintergrund abheben. Zunächst scheinen diese drei großformatigen Abzüge identisch und sind es doch nicht. Ein im Vergleich etwas matter wirkender Farbton oder ein ins Gelbliche changierendes Grün markieren eine minimale Abweichung, die jedoch ausreicht, um sich Inga Kerbers drei Pigmentdrucke (Cliché of a Flower Bouquet) II noch einmal genauer anzuschauen. Und so ist zu entdecken, dass das Motiv tatsächlich dasselbe ist, aber Bildausschnitt und Anmutung des Drucks variieren. Ein Handabzug mit dem Format von circa 20 mal 30 Zentimeter wurde für diese Folge eingescannt und drei Mal, in vielfacher Vergrößerung des Ausgangsbildes, auf unterschiedliche Papiere als Pigmentdruck geprintet. In einem Fall liegen vier Tage zwischen der Entstehung der beiden am selben Ort gefertigten Ausdrucke, im anderen Fall zwei Jahre. Immer wurde derselbe Druckertyp verwendet, doch die Ergebnisse sind in der Übersetzung in eine andere Ausgabegröße und Materialität nie gleich. Paradigmatisch wird hier die Frage nach der Reproduktion als Wiederholung und ihrer gleichzeitigen Negierung durch Differenz verhandelt, die Inga Kerbers seit 2009 unter dem Aspekt des „Clichés“ entstehendes fotografisches Werk bestimmt.
Dieser Terminus, der Bestandteil aller ihrer Bildtitel ist, wird gezielt in seiner Mehrdeutigkeit verwendet. Im Französischen als fotografisches Negativ wie auch als Positiv oder Abklatsch im Sinne einer Druckform verstanden, verbindet man mit dem Cliché im Deutschen ein Stereotyp oder ein schablonenhaftes Denken. Die eine Definition ist stärker funktional-technisch, die andere eher sozialpsychologisch ausgerichtet – beide fließen in den konzeptuellen Ansatz der Künstlerin ein. Zunächst scheinbar affirmiert wird das Cliché auf visueller Ebene dekonstruiert. Grundlage für dieses Vorgehen ist ein umfangreiches Archiv analoger Fotografien in unterschiedlichen Formaten, die mit verschiedenen Kameras, darunter auch eine Polaroidkamera, gefertigt wurden. Die frühesten, darin eingegangenen Fotos datieren aus dem Jahr 1989, beständig wird es erweitert. In leicht abgewandelter Form dienen die klassischen Gattungen der Kunstgeschichte als Ordnungsschema: Die Fotografien finden sich sorgfältig als Blumenstillleben, Landschaften, Tierstücke, Porträts oder Figurenstudien in Hüllen und Boxen einsortiert. Inga Kerber bewegt sich mit ihren Sujets bewusst innerhalb dieser engen Grenzen, als Methode, um scheinbar feststehende Kategorien, die unsere Wahrnehmung bestimmen, zu unterlaufen und damit zu hinterfragen. Die Motive werden nicht nur einmal, sondern mehrfach fotografiert, mit sich von Bild zu Bild nur geringfügig veränderndem Kamerastandpunkt. Es sind Fotografien, die durch Anschnitte und Unschärfen, Unter- und Überbelichtungen häufig den Charakter von Amateuraufnahmen haben. Mit zu diesem „normalen“ Eindruck trägt die Qualität der Abzüge bei, die unter Umständen beim Fotoservice eines Drogeriemarktes bestellt wurden. Solche Bilder sind in ungezählten Fotoalben zu finden, die einen Urlaub oder eine Familienfeier dokumentieren. Auch jenen Inga Kerbers haftet zunächst eine biografische Dimension an, die aber im weiteren Arbeitsprozess zurücktritt. Teilweise werden Fotos, wie etwa das einer Katze, einer Freundin oder einer Ikone, über Jahre hinweg ungenutzt archiviert und dann bei einer Sichtung neu entdeckt. Eingegangen in die Klassifizierung und durch die vergangene Zeit in ihrer unmittelbaren Bedeutung neutralisiert, haben sie die Sphäre des Individuell-Privaten verlassen und sind als Porträt, Landschaft oder Stillleben zu typischen, zu stereotypen Situationen und Anordnungen geronnen, die nun zum Ausgangspunkt einer Revision werden.
Dafür werden die Fotografien einer technisch-materiellen Transformation unterzogen, die den Weg vom Analogen ins Digitale nimmt. Die Kleinbildformate werden gescannt, die daraus hervorgehenden Dateien aber nicht am Computer bearbeitet. Gebrauchsspuren wie Kratzer, Knicke, Staub oder Fusseln bleiben erhalten und sind nun Teil der Bildinformation.1 Die Ausgabe der Dateien erfolgt über einen Drucker unter Verwendung pigmentbasierter und damit lichtechter Tinten. Die Größe dieser Pigmentdrucke ist abhängig von der maximalen Einlaufbreite des verwendeten Papiers, sie haben entsprechend an einer Seite immer eine Länge von 90, 107 oder 150 Zentimetern. So wie sich die Künstlerin mit dieser Normierung einer apparativen Vorgabe unterwirft, überlässt sie auch beim Scannen über die Nutzung der scannereigenen Profile die Farbgestaltung häufig dem technischen Gerät. So kann der Farbraum eines Prints je nach verwendetem Drucker anders ausfallen; dass sich Ausdrucke unter Umständen im Ton doch gleichen, ist nicht gesteuert, sondern absichtsvoller Zufall.
Die Übertragung der Fotovorlage mittels des Scans in den Pigmentdruck führt zu einem grundsätzlich anderen Erscheinungsbild zuweilen melancholischen Charakters. Die Farbstimmung verändert sich, tendiert oft ins Dunklere, Monochrome, die Kontraste werden schwächer. Das mit Kreide grundierte Papier saugt die Farbe auf, sodass die Bilder weich und leicht verschwommen wirken, Details sind verloren gegangen. Diese malerische Wirkung erinnert an die Bestrebungen des Piktorialismus, der um 1900 in Europa und den USA die Fotografie dominierte. Die aus der Anwendung sogenannter Edeldruckverfahren wie dem farbigen Gummidruck oder dem Bromöldruck resultierende Unschärfe wurde zum Stilmittel, um die Fotografie in den Status der Kunst zu erheben.2 Sollte damals der apparative Ursprung der Bilder verschleiert werden, exponieren sich in den „Clichés“ hingegen die technischen Bearbeitungsvorgänge selbst. Die Vorlagen, längst wieder ins Archiv zurückgewandert, sind zu diesem Zeitpunkt hinter das aus ihnen generierte Bild zurückgetreten; allein dessen Faktur verweist darauf, dass es Abbild, nicht Ursprungsbild ist. Eine Folge aus der Kategorie „Landschaft“, die zu den ersten gehört, die Inga Kerber 2009 als Teil der „Clichés“ entworfen hat, veranschaulicht dies. (Cliché of a Landscape) I zeigt in drei sich leicht vom Bildausschnitt voneinander unterscheidenden Aufnahmen einen wolkenverhangenen Himmel in verwaschenen Farben. Auf zwei der Fotografien ist am unteren Bildrand ein kleines Stück Straße zu sehen; sie wurden durch die Windschutzscheibe eines fahrenden Wagens hindurch auf einer Autobahn gemacht. Alle drei Prints sind von einem umlaufenden dunklen Rand umgeben, der Innenbeschichtung des Scannerdeckels, die sich beim Scannen selbst abgebildet hat. Nicht in der Bildbearbeitung abgeschnitten, sondern absichtlich stehengelassen, ist dieser Rand Indikator für die Art der Herstellung. Über den sich in einer dunklen Kante manifestierenden Abstand des Fotoabzugs zur Abdeckung während der Anfertigung des Scans wird Räumlichkeit angedeutet, die sich im daraus hervorgehenden Pigmentdruck in Zweidimensionalität rückverwandelt. Mitgescannte Knicke und Fusseln auf der ursprünglichen Fotografie lassen einen Trompe-l’œil-Effekt auf dem Ausgabemedium des großen Papierbogens entstehen, der jedoch von eigener Objekthaftigkeit gekennzeichnet ist. Inga Kerber befestigt die Prints für die Präsentation mit Stahlstiften oder Nägeln an der Wand, die kleinen Löcher in den Ecken korrespondieren mit den abgebildeten Gebrauchsspuren der zugrundeliegenden Fotos.
Das Verhältnis zwischen Ursprungsbild und seiner Wiederholung ist also ein komplexes: Der Begriff der Reproduktion als Beschreibung des aus dem Prozess hervorgegangenen Bildes trifft dessen Wesen nicht. Vielmehr handelt es sich um die Sichtbarmachung eines reproduzierenden Vorganges selbst, der im seriellen Vorgehen noch einmal auf anderer Ebene thematisiert wird.3 Es sind mindestens drei, manchmal vier oder sogar fünf Aufnahmen und verschiedene Reproduktionen dieser Vorlagen, mit denen Inga Kerber ein „Cliché“ erarbeitet. Im Falle von (Cliché of a Flower Bouquet) II war es nur eine Vorlage, die dafür eingesetzt wurde, häufig sind es jedoch zwei oder sogar drei leicht differierende Fotografien einer Situation, die einer Folge zugrunde liegen. So wird nicht nur eine Fotografie vervielfacht, sondern bereits das fotografierte Sujet an sich. Damit potenziert Inga Kerber den ubiquitären Charakter jener kunsthistorisch wie alltäglich tradierten Motivwelten, um ihn zugleich in Frage zu stellen.4 Denn in der Reihung dieser drei, vier oder fünf Bilder, horizontal nebeneinander oder vertikal übereinander hängend, mal im Hoch-, mal im Querformat ausgeführt, wird im Zusammenspiel von unterschiedlichen Blickwinkeln und Ausschnitten, Farbverschiebungen und aus verschiedenen Produktionen stammenden Papierarten jene Differenz erkennbar, die die Gleichartigkeit in Frage stellt. Es geht um das Schärfen der Aufmerksamkeit, die Schulung des Blicks, der, hat man das Prinzip der Abweichung erkannt, aufgefordert ist, die Varianzen innerhalb des scheinbar so Ähnlichen wie in einem Suchbild zu entdecken. Dies ist ein formaler wie inhaltlich motivierter Vorgang, der mit der Methode der Dekonstruktion von Text zu vergleichen ist, wie sie der französische Philosoph Jacques Derrida entwickelt hat. Mit dem Neologismus der différance, der sowohl die Bedeutung des Unterscheidens wie des Aufschiebens in sich trägt, wird auf die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit verschiedener Interpretationen verwiesen.5 Indem Inga Kerber innerhalb einer feststehenden Kategorie wie „Blumenstillleben“ oder „Porträt“ mit der visuellen Differenz arbeitet, unterläuft sie das gängige Rezeptionsmuster ebendieser Kategorie auf subtile Art und Weise: Gleich ist nicht gleich, eine eindeutige Lesart nicht gegeben. Der dem Cliché in seinen verschiedenen Bedeutungen innewohnenden Eigenschaft der unendlichen Reproduzierbarkeit, die im fotografischen Feld von besonderer Virulenz ist, wird aber nicht nur über den Unterschied in Standpunkt, Ausschnitt und Ausführung entgegengewirkt, sondern auch darüber, dass jedes „Cliché“ als Folge ein Unikat ist. Das schließt nicht aus, dass eine Vorlage erneut Verwendung findet, doch das Ergebnis wäre ein gänzlich anderes.
Der Impuls, dieses differenzielle Konzept in der Betrachtung zu erschließen, aber geht von der spezifischen Ästhetik der Bilder aus. (Cliché of a Palm Tree) I aus dem Jahr 2009 besteht – im Gebrauch von zwei verschiedenen Vorlagen – aus drei Pigmentdrucken mit dem Motiv der Baumkrone einer Palme, die in Untersicht gegen einen tiefblauen Himmel fotografiert wurde. Das Thema wäre touristisch zu nennen. Doch die „Pflanze“, so die Kategorie, in die diese Fotografie eingeordnet wurde, verwandelt sich in der Vergrößerung des Scans, die mit dem Verlust von Binnenzeichnung einhergeht, in eine unter formalästhetischen Prämissen zu betrachtende Studie, deren bizarre Silhouette und die dunkle, sich auf Schwarz und Blau beschränkende Farbgebung die Sphäre des Gegenständlich-Vertrauten hinter sich lässt.
Die Klassifizierung als Prinzip, das zugleich als solches in Frage gestellt wird, findet über die einzelnen Folgen hinaus als Buch seine Fortsetzung.6 Mit dem Catalogue raisonnée wird einerseits der Vergleich auch zwischen den verschiedenen Kategorien ermöglicht, andererseits – und dies im Derrida’schen Sinne – der Versuch einer, wenn man der Logik der wissenschaftlichen Buchgattung folgt, auf Vollständigkeit abzielenden Werkerschließung, zwei Jahre nach Abschluss des Studiums, ad absurdum geführt.7 Zugleich aber wird mit dem Buch die mediale Transformation weitergeführt. Die gescannten Bilder für die Reproduktion in den Offsetdruck zu überführen bedeutet, die Annäherung an deren Ausführung im Pigmentdruck zwar anzusteuern, zugleich aber zu wissen, dass der Druck technikbedingt qualitativ anders ausfallen muss. Das Spiel mit der Differenz geht in zweiter Ordnung weiter – wie in auch in dieser Publikation.
Agnes Matthias, geboren 1973 in Kassel, studierte Kunstwissenschaft, Kunstgeschichte und Empirische Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Tübingen. 2003 Promotion mit einer Untersuchung zum Krieg in der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie an der Universität Tübingen. Stipendiatin der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung im Programm „Museumskuratoren für Fotografie“. Tätigkeit als freie Kunsthistorikerin mit den Arbeitsschwerpunkten Fotografie und Grafik des 19. bis 21. Jahrhunderts unter anderem für das Museum Folkwang Essen und das Kupferstich-Kabinett Dresden. Seit 2011 Leiterin der Grafischen Sammlung am Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg. Agnes Matthias lebt in Dresden und Regensburg.
1 Eine vergleichbare Herangehensweise in der Auseinandersetzung mit einer zweiten, dem eigentlichen Bild vorgelagerten Informationsebene findet sich im fotografischen Werk Stefan Krauths (*1978). Er refotografiert digitale Aufnahmen vom Bildschirm, die über Lichtreflexe, Verschmutzungen oder gezielte Irritationen, etwa durch Zigarettenrauch, verfremdet werden.
2 Vgl. zur piktorialistischen Fotografie z. B. Enno Kaufhold, Bilder des Übergangs. Zur Mediengeschichte von Fotografie und Malerei in Deutschland um 1900, Marburg 1986.
3 Claudia Angelmaier (*1972) hat in ihrer Serie „Pflanzen und Tiere“ einen ähnlichen Aspekt im Bereich der fotografischen Kunstreproduktion untersucht. Sie arrangierte dafür Publikationen mit Abbildungen von Kunstwerken zu Tableaus, die in ihrer farblichen Varianz die Frage nach dem Charakter des Originals stellen lassen.
4 Dass in jüngster Zeit das Thema „Zwillinge“ als Kategorie aufgenommen wurde, bedeutet eine zusätzliche inhaltliche Volte innerhalb dieses Prinzips der Vervielfältigung.