Alte Stoffe
DONNA Sammlerinnen, Inga Kerber, Künstlerin, Leipzig
Stoffe sind für mich der Gegenentwurf zu einer Welt, die immer digitaler wird. Ich stelle mir das glatte Erscheinungsbild eines Monitors oder Touchscreens vor, wir scrollen ja den ganzen Tag auf dem Smartphone, wir treiben auf einer unendlichen Oberfläche. Sich dagegen mit Stoffen zu beschäftigen und an ihnen haften zu bleiben, das bedeutet für mich Tiefgang. Ich frage mich: Wie ist das Gewebe aufgebaut? Was spüre ich, wenn ich mit den Fingerspitzen langsam darüber gleite? Was steckt hinter winzigen Löchern oder Rissen? Als ich klein war, öffnete meine Großmutter ihren Schrank und zeigte mir alte Kleider. Dazu erzählte sie, und ich wurde mit den Stoffen in ihre Geschichten hineingezogen. Man lernt von alten Textilien viel über Ausstrahlung und Ästhetik: Falten oder Flecken, Risse und Löcher mindern die Schönheit nicht – im Gegenteil. Alles erzählt eine Geschichte.
Zuhause horte ich zum Beispiel Stoffe aus Indonesien aus dem 18. und 19. Jahrhundert, einer stammt aus einem abgeschiedenen Bergdorf in Vietnam. Ich habe sie von einer Studienreise mitgebracht, manchmal benutze ich sie als Tischdecke oder Überwurf. Oder als Wandschmuck, wie man es aus alten Herrenhäusern kennt. Ich mag die Idee, von Stoff umhüllt zu sein. Und ich schätze an Textilien auch, dass sie flexibel sind und wenig Platz im Schrank brauchen. Außerdem sammle ich Relikte aus DDR-Zeiten: Ich habe ein Buchbinderleinen aus Leinen, Jute und Seide und ein Jacquard-Gewebe mit einer unglaublichen Farbtiefe – beide aus einer Epoche, die es gar nicht mehr gibt. Sie sind für mich wie kostbare Zeitzeugen.
In meinem Atelier dagegen lagern Leinen und Mangelstoffe in hohen Holzregalen. Manchmal bekomme ich Pakete geschickt mit alten Tischdecken und Servietten aus Baumwolle, Flachs oder Leinen. Wenn ich an einer neuen Arbeit sitze, spanne ich ein Stück auf und zeichne darauf oder bemale es und versuche mir dabei vorzustellen, was dieser Stoff erlebt hat. Alte Materialien schulen auch den Respekt vor den Dingen. Ich habe schon auf den Stoffen meiner inzwischen verstorbenen Großmutter gezeichnet und mich währenddessen gefragt, wie ihr meine Motive wohl gefallen würden. Was würde sie sagen? Das war wie ein Dialog, und ich finde, man merkt ihn der Arbeit auch an.