Fotografie heute: distant realities
Inka Graeve Ingelmann
2016
Vor dem Hintergrund der substantiellen Veränderungen, die die Digitalisierung in allen Lebensbereichen seit nunmehr 25 Jahren hervorgerufen hat, befindet sich auch die Fotografie in einem steten Prozess der Neufindung. Als künstlerisch eigenständige Ausdrucksform steht das fotografische Medium dabei nicht mehr nur im Austausch mit den klassischen Bildgattungen wie Malerei, Graphik und Skulptur, und deren tradierten Präsentationsformen, ob als auf die Wand oder den Raum bezogenes Ausstellungsobjekt oder als Buchreproduktion, sondern ebenso mit multimedialen wie digitalen Bildwelten und neuartigen Ausstellungs- und Distributionsverfahren. Die notwendige Anpassung an die rasante technische Entwicklung, die seit einigen Jahren durch die weltweite Zirkulation der Bilder im virtuellen Raum eine neue, quasi fluide Dynamik gewonnen hat, sowie der Dialog mit anderen Medien und Bildsystemen setzen eine Neubestimmung der theoretischen und ästhetischen Parameter voraus. Ein Paradigmenwechsel hat eingesetzt, wie ihn die Fotografie zuletzt in den 1920er Jahren vor dem Hintergrund des massenhaften Aufkommens der illustrierten Presse und für jedermann handhabbaren Kleinbildkameras erlebt hat. Ist eine Fotografie heute überhaupt noch das, was der Betrachter zu kennen meint und zu sehen glaubt? Wie definiert sich ihr Verhältnis zu Wirklichkeit und Authentizität einerseits, zur Autonomie des Bildes andererseits? Welchen Einfluss haben digitale Verarbeitungsprozesse auf das Fotografische und seine Erscheinungsformen? Ist eine Fortführung fotohistorischer Traditionen, wie beispielsweise der dokumentarische Stil, noch denkbar oder sind diese Aufgaben längst von anderen visuellen Systemen übernommen worden?
Die Ausstellungsreihe Fotografie heute nimmt die eigenen musealen Bestände zum konzeptuellen Ausgangspunkt, um die Fortschreibung fotografischer Positionen im digitalen Zeitalter wie die Formulierung neuer künstlerischer Strategien vorzustellen. Für die Auswahl zu distant realities war der umfangreiche Sammlungsschwerpunkt zur topographischen Fotografie initiierend, Werke amerikanischer und europäischer Fotografen von den frühen 1970er Jahren bis heute, die der Tradition und Erneuerung eines dokumentarischen Stils verpflichtet sind. Die analytisch-beschreibenden Bestandsaufnahmen, wie sie beispielsweise Robert Adams, Bernd und Hilla Becher oder Zoe Leonard formulier(t)en, setzen sich mit dem Status quo wie dem Wandel urbaner, suburbaner und ländlicher Lebensräume auseinander und zeichnen die Spuren nach, die Zeit und Geschichte ihnen eingeschrieben haben.
Auch die Arbeiten von Ilit Azoulay, Mishka Henner, Inga Kerber, Mykola Ridnyi und Erin Shirreff untersuchen spezifische, oftmals gesellschaftlich oder politisch neuralgische Orte, verlassen aber die engen Grenzen eines dokumentarischen Stils und bedienen sich der vielfältigen Möglichkeiten digitaler Techniken und neuer künstlerischen Ausdrucksformen. Die analoge Fotografie, ihre Geschichte wie die an sie geknüpften Vorstellungen und Erwartungen bleiben dabei ein zentraler Bezugspunkt. Immer geht es in ihren künstlerischen Ansätzen auch um ein Nachdenken über das Medium und den Status des Bildes, über Wahrnehmung und Sehen sowie die komplexen Bedingungen, unter denen sich beide konstituieren. Nicht die unmittelbare Wirklichkeit ist der Referent, sondern ihr medial vermitteltes Bild, eingebettet in ein vielschichtiges, von divergierenden Kräften beherrschtes Spannungsfeld, das die unterschiedliche Genese von Bildern wie ihre Migration in virtuelle Bildsysteme mitdenkt.
Der Begriff des entscheidenden Augenblicks hat vor allem durch Henri Cartier-Bressons stilprägende Monographie aus dem Jahr 1952 lange die Vorstellung des Fotografischen geprägt. Der Begriff, den das Werk der 1982 in Leipzig geborenen und an der dortigen Hochschule für Graphik und Buchkunst ausgebildeten Künstlerin Inga Kerberumschreibt, ist hingegen der des Clichés. Kerber bewegt sich in den klassischen kunsthistorischen Genres, sie bearbeitet die Themen Landschaft, Porträt oder Stillleben, und jedes ihrer immer mehrteiligen Werke trägt im Titel das Wort Cliché. Die unterschiedlichen Konnotationen dieses Begriffs – neben der umgangssprachlichen Bedeutung ist er ein terminus technicus aus dem Bereich der Drucktechnik, bedeutet zugleich aus dem Französischen übersetzt ein Foto machen bzw. ein Negativ - fließen alle in Kerbers Bildentwürfe ein, die mit subtilen Mitteln sowohl die tradierte Vorstellung des einen entscheidenden Augenblicks wie die des Klischees unterlaufen. Die Aufnahmen zu (Cliché of a Landscape, House near the Beach) I [Abb.] entstanden auf Kreta während der dramatischen Phase der Griechenlandkrise und zeigen den gleichen Ort in drei nur leicht voneinander abweichenden Ausschnitten. Die analog entstandenen Bilder scannt die Künstlerin und alle Spuren des Gebrauchs und der technischen Übersetzung werden dem Bild eingeschrieben. In jedem einzelnen Arbeitsschritt stellt sie dabei tradierte Gewissheiten über das Medium Fotografie in Frage. Es geht ihr nicht um den einzig ‚richtigen‘ Augenblick – ihre Motivauswahl wirkt alltäglich und banal -, nicht um technisch perfekte Abzüge – sie wechselt zwischen Klein- und Großbildkamera, zwischen Discounterabzügen, Kopien und professionell gemachten prints -, nicht um Reproduzierbarkeit – ihre finalen Abzüge sind jeweils Unikate -, nicht um Dauerhaftigkeit – sie hängt ihre Bilder ungerahmt und versteht die dabei entstehenden Spuren als Patina -, aber auch nicht um Zirkulation im globalen Netz, denn die Materialhaftigkeit der Abzüge ist ein wichtiges, bildimmanentes Moment. Ihre Arbeiten sind eher als visuelle Reflektionen über die Fotografie zu verstehen, als Medium des Wahrnehmens, als Kulturtechnik wie als künstlerische Ausdrucksform. Sie hinterfragt das, was vermeintlich das Wesen der Fotografie ausmacht und setzt diesem andere Optionen entgegen. „Mich interessieren klischeehafte Bildsituationen sowie der an der Bildproduktion haftende Vorgang der Reproduktion als produktiv schöpferische Praxis. Es geht um die Betrachtung der Differenz als ein Ganzes, um den gemeinsamen, parallelen Moment einer Verschiedenheit.“